Es war eine ziemlich spontane Entscheidung, schließlich war ich das erste Mal in der Notunterkunft. Wenn sich über Nacht nicht noch ein Freiwilliger gefunden hätte, wäre der Ausflug ausgefallen. Die Familien, die sich voller Vorfreude auf ein wenig Abwechslung in die Liste eingetragen hatten, hätten ihren Sonntag doch wieder in der Turnhalle verbringen müssen, die seit Wochen ihr Zuhause ist. Also habe ich kurz mit dem Liebsten gesprochen (der am Sonntag ein paar Stunden für sich haben sollte) und dann zugesagt. Für Luise und mich.
Zu helfen, wenn Luise in der Kita ist, das war der Plan. Schon allein deshalb, weil es schwierig sein dürfte, etwa Kleiderspenden zu sortieren und zusammenzulegen und gleichzeitig ein 18 Monate altes Kleinkind davon abzuhalten, alles wieder durcheinander zu bringen. Aber Hilfe wird eben gebraucht, wenn sie gebraucht wird. Und ein Ausflug ins Aquarium, das ist doch auch was für Luise. Außerdem wollen wir, dass es für sie ganz selbstverständlich ist, in einer vielfältigen Gesellschaft groß zu werden. Dazu gehören auch die Flüchtlinge.
Am Sonntagmorgen stehen wir also um kurz nach 10 Uhr im Foyer der Turnhalle und – warten. Ute, die den Ausflug organisiert hat und mit der ich am Abend zuvor kurz telefoniert habe, ist schon da. Es dauere immer eine Weile, bis auch wirklich alle startklar sind, hatte sie mir schon am Telefon gesagt. Und das bestätigt sich auch.
Noch bevor wir losgehen, scharen sich die ersten Kinder um Luise und mich. Sie fassen schnell Vertrauen. Demonstrieren mir stolz, wie viele Wörter sie bereits auf Deutsch kennen. Streicheln Luises Hand. Und ein kleiner Junge nimmt meine.
Mit circa 25 Flüchtlingen (wir haben zumindest versucht, zu zählen, wie viele dabei sind) via Tram und S-Bahn zum Aquarium zu gelangen, ist schon ein kleines Abenteuer. Meine eigene Orientierung in Berlin ist ja nun auch noch nicht die beste. Und eine große Gruppe zusammenzuhalten, die aus Erwachsenen, Babys, Kleinkindern, einer sehr vernünftigen Zwölfjährigen und ein paar wilden Jungs besteht, die kein oder nur wenig Deutsch beziehungsweise Englisch sprechen, ist gar nicht so einfach. Aber es geht. Wir kommen an, ohne unterwegs jemanden zu verlieren.
Die bunt schillernden Fische im Aquarium begeistern mein Kind ebenso wie die anderen. Jeder erkundet die Gänge auf eigene Faust. Wir verabreden eine Zeit, zu der wir uns wieder am Ausgang treffen wollen. Nur ein Geschwisterpaar, das ohne Eltern mitgekommen ist, bleibt immer bei Ute (deren Partner und Kinder auch dabei sind) oder Luise und mir: sie zwölf, er acht Jahre alt. Die beiden sind großartig, passen immer gut auf, wo Luise hin läuft, nehmen sie an die Hand. Und teilen sich Gurken und Obst mit ihr. „Du gut“, sagt das Mädchen zu mir und lächelt. „Du auch“, antworte ich. Diese Kinder sind so dankbar. Das berührt mich.
Der Höhepunkt des Tages für alle: Als wir das Aquarium verlassen, fallen die ersten Schneeflocken. Die Jungs mit ihrer schier endlosen Energie versuchen, sie mit der Zunge aufzufangen. Genau so, wie wir es früher gemacht haben. „Bei uns schneit es im Winter auch viel“, erzählt mir ein Vater aus Afghanistan. Er spricht sehr gut Englisch. Eine Mutter drückt mir ihren Schirm in die Hand. Ich lehne dankend ab, doch sie besteht darauf, dass ich ihn nehme. „For the baby“, sagt sie und deutet auf Luise, die ich vor meinem Bauch trage.
Der Rückweg wird noch einmal aufregend. Nicht alle schaffen es in die S-Bahn, bevor die Türen sich schließen. Ein paar von uns fahren vor und warten am Alexanderplatz auf den Rest. Die Kinder finden’s lustig. Die Erwachsenen, auch ich, sind langsam ganz schön platt.
Zurück in der Notunterkunft verabschieden wir uns voneinander. Ich fahre mit Luise nach Hause. Sie schläft sofort ein. Auch ich bin müde. Und muss daran denken, dass die anderen Familien jetzt keine ruhige Wohnung für sich haben, sondern den Abend in der Turnhalle verbringen. Ein wenig Privatsphäre bietet ihnen dort nur ihr Bett. Mit ein paar feuerfesten Decken als Sichtschutz.